Nassau/Bahamas - (New York/USA) - Horta/Azoren

Das Taxi rollt davon, auf den Sitzen ungewohnterweise nur vier Mitreisende: Lio, Janosch, Nico und Susann. Aurel bleibt winkend an der Marina zurück. Allein ist aber auch er nicht, sein Onkel Urs und Vater Roman sind bereits abfahrbereit auf Rocinante. Sebastian Wache, Diplommeteorologe von Wetterwelt.de steht bei dieser - unbeständigeren - Passage von West nach Ost beratend zur Seite und gibt unter Vorbehalt grünes Licht; Es ist theoretisch möglich Richtung Bermudas zu segeln, der Wind und die Wellen sollen, aufgrund eines Tiefs mit einer Kaltfront, jedoch ziemlich herausfordernd werden. Das Tief lässt sich allerdings durch einen etwas südlicheren Kurs umgehen, was bedeutet, keinen Zwischenstopp auf den Bermudas einlegen zu können und die ganze Strecke (rund 2800 Seemeilen) zu den Azoren in einem Schlag zu bewältigen. Die Entscheidung, nicht auf die Bermudas zu segeln ist schnell gefällt. Urs und Roman wollen möglichst schnell in den Azoren ankommen und nicht auf ein besseres Wetterfenster warten und Aurel fühlt sich sowieso wohl auf dem Wasser, auch längere Zeit am Stück. Auch Sebastian Wache gibt - mit dieser Entscheidung - definitiv grünes Licht. Ein Halt an der Tankstelle und ein voller Dieseltank später ist es so weit. Motor an und los, raus aus den Untiefen der Bahamas!

 

Das besagte Tief, dem die Rocinante entkommen möchte, zeigt sich dem Rest der Familie bald. Gegen Abend landen die Kinder und Susann in New York, dem Zwischenstopp, von wo aus Flugzeuge direkt die Azoren anfliegen. Grund genug, auch auszusteigen und die liebe, ehemalige Schulfreundin Alice und ihre Familie zu besuchen und ein bisschen Grossstadtflair zu schnuppern. Am ersten Abend zeigt sich das Wetter zwar bewölkt, aber noch trocken, das ändert sich am nächsten Tag radikal: Es regnet in Sturzbächen! Ein bisschen Organisation braucht es, sich mit Subways und chinesischen Schriftzügen in Chinatown zurecht zu finden, dann aber ist der erste Schritt klar. Alle brauchen lange Hosen, die Kinderbeine sind seit Beginn der Reise zünftig gewachsen... Der Times Square, an dem es viele Einkaufsmöglichkeiten gibt, leuchtet in bunten Schriftzügen, die gespannten Regenschirme bringen ebenfalls ein bisschen Farbe ins grau verhangene Grossstadtleben.

 

Auf der Rocinante werden die drei Segler - noch - vom Regen verschont. Fast zwei Tage brummt der Motor, der Wind genügt trotz zuversichtlicherer Ansage nicht, nur auf die Segel zu setzen. Dann aber sind die Bedingungen perfekt; Rocinante flitzt mit konstanten sechs Knoten dahin. Sie teilen die Nachtwachen unter sich auf, so dass alle genügend Schlaf bekommen. Wer weiss, ob sich das noch ändern wird. Die Bedingungen können sich schnell ändern, da von West nach Ost ein Tief das nächste ablöst, was oft mit viel Wind und hohem Wellengang verbunden ist. Dazu kommt, dass die Richtung des Windes oft ändert und zwischendurch Flautengürtel entstehen können. Oder aber - mit Glück - immer auf dem nächsten Aufziehenden Windstrom von West nach Oft gesegelt werden kann. Aurel, Roman und Urs hoffen natürlich auf Letzteres, wissen jedoch, dass diese Passage einige Überraschungen bereit hält. Gutes Essen trägt zur Stimmung bei, die teuren Nahrungsmittel, die in Nassau für viel Geld gekauft worden sind, schmecken zum Glück auch gut.

 

Die New York-Besucher:innen treiben unterdessen im Restaurant um die Ecke Fast Food auf und essen am Boden des Hotelzimmers. Kleinräumige Wohnbedingungen sind sie sich durch das Leben auf Rocinante gewohnt. Lange hält es sie jedoch nicht im Hotel, das Wiedersehen mit Alice und ihrer Familie steht an. Die Subway führt zu ihr in die East Side, die Freude ist riesig; schon viel zu lange ist die letzte Begegnung her. Gemeinsam waten wir durch den strömenden Regen ins Natural History Museum, die Kinder sind begeistert und wollen gar nicht mehr raus. Und das, obwohl sich gefühlt ganz New York durch die Ausstellungshallen bewegt.

 

Weit weg von historischen Ausstellungsstücken und ausgestopften Tieren sind Aurel, Roman und Urs nah an realen Meerestieren: Buckelwale tauchen unweit des Schiffes aus dem Meer und zeigen gekonnte Sprünge. Es ist das erste mal, dass Roman und Urs Wale sehen. Am Abend lässt die untergehende Sonne den Horizont brennen, er leuchtet gelb-orange-rot und spiegelt die Flammen auf das Wasser vor Rocinantes Bug. Fliegenfische flattern mit ihren kleinen, seltsamen Flügeln in Schwärmen durch die Luft und hier und da schiesst ein Vogel fast senkrecht ins Wasser, um sich den Bauch mit einem Fisch zu füllen. Die Navigation wird anstrengend, der Wind bläst nun von vorn. Das heisst: Viel Krängung - Seitenlage -, viel Bewegung auf dem Schiff, alles dauert seine Zeit. Zum Glück stehen mittlerweile alle mit Seebeinen an Deck.

 

Keine Seebeine braucht es auf Manhattener Hochhäusern, dafür ist es von Vorteil, schwindelfrei zu sein, wenn Alice typische amerikanische Bagels auf der Dachterrasse serviert. Was für ein Ausblick! Das totale Gegenteil der Ruhe auf hoher See. Wir sehen uns die Schule von Theo, Alices Sohn, an und spielen eine Weile auf dem grossen Spielplatz, bevor wir uns schweren Herzens nach einem gemeinsamen Znacht verabschieden. Das nächste Wiedersehen soll weniger lange dauern! Die nächsten zwei Tage locken die Freiheitsstatue, das Memorial der Twintowers und der Brooklinpark. Nico ist begeistert von den grossen, tollen Spielplätzen inmitten von Wolkenkratzern. Die fünf Tage sind im Flug vorbei, schon ist es wieder Zeit, nach einer harzigen ÖV-Reise am Gate der Azores Airline zu stehen. Lio, Janosch, Nico und Susann landen nach einer Freinacht wieder im selben Tief, das sie schon in New York angetroffen haben. Flugzeuge sind einfach viel zu schnell... Der Flieger kann wegen Starkwind nicht auf der Insel Faial in Horta landen, sondern steuert die Insel daneben, Ilha do Pico, an. Eine Shuttel- und Fährenfahrt später sind sie am Ziel, das gemietete Airbnb kann bezogen werden. Darin sind genug Betten für die anreisenden Grossmütter. Schon am nächsten Tag trudelt Grossmami Marianne ein, wieder ist die Wiedersehensfreude riesig. Und sind wieder bekannte Gesichter da, ist es überall heimelig.

 

Auf der Rocinante beginnen die Tage, ineinander zu fliessen. Die Bedingungen sind bestens, die Fahrt geht gut voran. So könnte die Fahrt nach Osten weitergehen! Allerdings wäre es keine West-Ost-Passage, wenn nicht doch noch eine kleine Besonderheit auftauchen würde... So auch jetzt: Plötzlich geht die Fahrt nach einer Wende nach Norden nicht mehr in die gewünschte Richtung. Zwar zeigt der Bug laut Kompass den exakten Kurs, allerding ist im Track sichtbar, dass Rocinante seitlich praktisch zurückgetrieben wird. Was ist los?! Die Crew schüttelt die Köpfe, Erklärung wird auf die Schnelle keine gefunden. Bis Jan, der Schiffseigner sich meldet. Ihm ist beim Blick auf den Tracker aufgefallen, dass sich sein Segelschiff nicht vom Fleck bewegt. Nach Nachforschungen ist klar: Aurel, Roman und Urs sind direkt in einen sogenannten Eddy, einen temporären Wasserwirbel, der sich über einen Durchmesser von mehreren 100 Kilometern ausweiten kann, geraten. Jan, gerade nach einer Schiffsüberführung in Sizilien, Nachbar Philipp im heimatlichen Wädenswil und Susann, unterdessen auf der azorischen Insel Faial, machen sich schlau und geben aus der Ferne Anweisungen, wie weitere Eddies umfahren werden können. So kann Rocinante kann sich unter Maschine aus dem unheimlichen Strom befreien und munter weitergaloppieren.

 

Kaum aufgeatmet, ist es gar nicht so einfach, den Strömungen auszuweichen. Der Kurs gegen Norden bringt Gegenwind, die Wellen knallen gegen den Bug; "ungemütlich" ist nur der Vorname dieser Strecke. Kommt dazu, dass sich laut Wettervorhersage ein Sturm ankündigt. Julia, die Schwester von Jan, die uns auf Rocinante schon mehrfach beim Wetterrouting begleitet hat, meldet sich und bietet an, die Grosswetterlage im Auge zu behalten. Ein willkommenes Angebot, das dankbar angenommen wird. Nach so vielen Tagen auf See ist es gut zu wissen, dass unterschiedliche Personen das Schiff im Blick behalten und notfalls mit Rat und der Möglichkeit, Informationen zu beschaffen, zur Seite stehen. Wind zwischen 35 bis 44 Knoten und über 4 Meter Welle sind es schliesslich, die Aurel, Roman und Urs während rund 24 Stunden auf Trab halten. Sie steuern das Schiff nur mit kleiner Genua - dem Vorsegel - durch die Nacht.

 

Auf den Azoren sind unterdessen Grosi Monika und Uroma Maga dazu gestossen und machen die Horta-Zwischenrunde komplett. Der Besuch des Vulkans Capelinho, eine Kraterwanderung und noch viel mehr halten alle aktiv. Nicht zuletzt auch das Whale Whaching auf einem Gummiboot, begleitet von Meeresbiologinnen. Unzählige Pottwale tauchen auf und präsentieren ihre Schwanzflosse beim Abtauchen. Ein tolles Erlebnis! Wie es der Zufall will, ist Philippa, die Susann von der Zürichsee-Zeitung kennt, in Horta in den Ferien. Einem lustigen Abendessen inklusive Anstossen mit dem berühmten Gin Tonic im Segler:innentreffpunkt "Peter Café Sport", steht nichts im Weg. Daneben bleibt viel Zeit für den Schulstoff, die Rückkehr in die Schule kann für Lio, Janosch und Nico organisiert werden - alle sind sehr glücklich und freuen sich! -, Susann kommt mit ihren Aufträgen voran und kümmert sich um Arbeit ab August. All das verspricht Entspannung für die restlichen Reisemonate.

 

Viel zuviel Entspannung breitet sich um Rocinante aus: Nach der stürmischen Nacht macht sich eine riesige Flaute breit. Nicht schon wieder! Aurel, Roman und Urs können zwar endlich wieder einmal eine ersehnte Dusche aus der Pütz, dem Wasserkessel, "geniessen" und wackelfrei kochen, Wind wäre ihnen jedoch viel lieber. Schliesslich wollen auch sie irgendwann in den Azoren ankommen. Weiter nördlich gibt es nutzbaren Wind. Wird dieser nicht erreicht, muss Rocinante weitere Tage in der Flaute ausharren. Noch ist Diesel da, viel ist es allerdings nicht mehr. Da die Tankanzeige nicht mehr funktioniert, wird der Stand im Tank mit dem Meter gemessen. Allerdings führt das Saugröhrchen nicht ganz zum Grund des Tankes, weshalb es zum Diesel-Debakel kommt: Es hat zwar noch einige Zentimeter Diesel im Tank, dieser kann jedoch nicht mehr angezapft werden. S*******!!! Zu allem Unglück driftet Rocinante mit 1.6 Knoten rückwärts, statt vorwärts. Der Wetterbericht zeigt an, dass es innerhalb der nächsten zwei Tage an dieser Stelle absolut windfrei bleiben soll. Unweit, etwas weiter östlich jedoch ist Wind angezeigt, der die Crew weiterbringen könnte. Aurel verwandelt sich kurzerhand in MacGyver, pumpt das Dinghy auf, befestigt es seitlich am Schiff und zurrt das Steuer so fest, dass Rocinante vom Dinghy geschoben wird. Vorwärts, in Richtung Wind. Wenig später meldte sich Julia mit der Info, dass ziemlich nah, etwas nördlich ein rumänisches Segelschiff unseren Weg kreuzen soll. Wir nutzen die Chance und begeben uns auf die erwartete Stelle und warten ab. Nach mehreren Stunden erscheint in der Dunkelheit ein kleines Licht und Aurel kann via Funk mit dem Schiff Kontakt aufnehmen. Leider haben sie selber auch fast kein Diesel mehr und so geht es weiter mit dem Dinghyexpress.

 

Jeder Actionplan hat seine Grenzen, so auch, ein 13-Meter-Segelschiff von einem Dinghy schieben zu lassen. Ausserdem bläst der Wind nun - entgegen der Vorhersage - von Ost, also voll auf die Nase. Das heisst, dass gekreuzt werden muss: Immer gegen Norden, dann wieder gegen Süden, was den Weg stark verlängert. Und das eigentlich schon nah am Ziel, was die Geduldsprobe weiter herausfordert. In Flores, der westlichsten Insel der Azoren, wird das Anlegen im Hafen mit Ostwind nicht empfohlen. Erst recht nicht, ohne den Motor anwerfen zu können. Schliesslich erreicht eine Meldung via Satellit die Truppe in Horta. Grossmami Marianne ist unterdessen wieder zurück in der Schweiz, aber Monika und Susann schwärmen aus auf "Mission Diesel", Lio, Janosch und Nico dürfen unterdessen zu ihrer Freude im (noch ziemlich kalten...) Hotelpool von Uroma Maga plantschen. Die Mission Diesel stösst bei den freundlichen Mitarbeitenden der Policia Maritima auf offene Ohren, obwohl es kein Notfall im eigentlichen Sinne ist. Ein Fischkutter, der sich in der Nähe der Rocinante aufhält wird angefunkt und macht sich auf dem Weg, mit dabei ein Kanister Diesel, der abgegeben werden kann. Es folgt eine filmreife Übergabe der wertvollen 20 Liter mit Hilfe einer Boje auf hoher See... und damit kann die Fahrt weitergehen!

 

Nach 27 Tagen kommen Aurel, Roman und Urs müde, aber glücklich, am Ziel zu sein, beim Rest der Familie an. Was für eine Passage! Herzlichen Dank an dieser Stelle an Julia, Philipp und Jan für das wertvolle Mitdenken, den lieben Grossmüttern und der Urgrossmutter für den Reiseaufwand, den sie auf sich genommen haben, um Zeit mit uns zu verbringen, Alice für ihre herzliche Gastfreundschaft und Neni Roman und Urs dafür, dass ihre Abenteuerlust sie auf die Rocinante geführt hat. Es war eine intensive, aber auch sehr schöne Zeit mit euch allen!